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Rezension: Nie mehr leise – Die neue migrantische Mittelschicht (Betiel Berhe)

Buchcover Nie mehr leise

Das Buch „Nie mehr leise – Die neue migrantische Mittelschicht“ von Betiel Berhe ist eines der ersten politischen Bücher, das ich jemals in meinem Leben gelesen habe. Normalerweise lese ich eher Sachbücher, die viel mit dem Inneren, also mit der Psyche eines Menschen zu tun haben und sich weniger mit den Strukturen und Rahmenbedingungen befassen, in denen wir leben. Ich denke, dass ich das tue, weil man für Letzteres wirklich viel Zeit und Geduld braucht, um positive Veränderungen herbei zu führen. Wir haben nur einen begrenzten Einfluss darauf. Was wir hingegen viel besser beeinflussen können, ist unsere innere Einstellung. Ich glaube, dass ich deswegen noch nie so richtig politische Bücher gelesen habe. Aber was mich an diesem Buch so fasziniert hat, war der Untertitel „Die neue migrantische Mittelschicht“. Das sprach mich an, weil ich ein Teil dieser Mittelschicht bin. In dem Buch wird eine Perspektive erläutert, die ich so noch nicht gelesen habe, die mir aber zugleich sehr vertraut ist: Wir sind Kinder aus der migrantischen Arbeiterschicht. Uns war es möglich durch die sehr harte Arbeit unserer Eltern sozial aufzusteigen. Da ich deutsch-vietnamesische Wurzeln habe, betraf das in meinem Fall meine Mutter. Beispielsweise ist sie jahrelang putzen gegangen, damit das Geld für mein Studium reichte. Mein Vater wollte mir das Studium damals verwehen, weil ich das Dritte von drei Kindern war, das damals nicht wirklich auf seiner Agenda stand und somit die finanziellen Ressourcen irgendwann sehr knapp wurden. Aber meine Mutter stand immer für mich ein. Sie glaubte an mich und meine Fähigkeiten. Selbstverständlich hat sie deswegen sowie noch aus weiteren etlichen Gründen einen absoluten Heldinnen Status in meinem Leben. Vielleicht konnte sie nicht immer so für mich da sein, wie ich das in manchen Momenten gebraucht hätte, aber ich weiß, dass sie immer alle ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen in Bewegung gesetzt hat, um mir ein gutes Leben zu ermöglichen. Und genau deswegen verspüre ich auch eine außerordentliche Verbundenheit zum Beispiel zum Putzpersonal, zu Umzugshelfern, Paketboten, Imbissbesitzern*innen etc. Denn ich kann mir genau vorstellen, welche Geschichten sich im Hintergrund bei diesen Menschen abspielen könnten.

Überdies habe ich mir das Buch auch besorgt, weil es in meinen Augen das Erste seiner Zeit ist, das die Zusammenhänge zwischen Rassismus und Klassismus beleuchtet. Die waren mir vorher nämlich so gar nicht bewusst. Für Klassismus war ich bisher blind. Nach dem, was ich bisher dazu gelesen habe, scheint dies aber ein mindestens ebenso großes Thema in unserer Gesellschaft zu sein, wie Rassismus, wenn nicht sogar noch größer. Die Zusammenhänge zwischen beidem hat Betiel Behre gekonnt dargestellt.

Im letzten Kapitel versucht die Autorin Lösungen zu skizzieren. Dass sie hier vor allem das kapitalistische System in Frage stellt, hat mir besonders gut gefallen. Sie meint damit vor allem die Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Natur, also unsere Umwelt. Damit ist Behre total am Zahn der Zeit.

An manchen Textstellen wurde mir teilweise zu stark pauschalisiert. Ein paar Behauptungen hätten meines Erachtens noch mehr gestützt werden müssen. Das ging mir in Bezug auf ihre Erläuterungen zur Flüchtlingshilfe relativ weit am Ende des Buches so.

Dennoch war der Inhalt des Buches relevant für mich. Ich fand es kurzweilig und erhellend zu lesen. Liebe Betiel Behre, ganz herzlichen Dank für dein gelungenes Erstlingswerk. Es ist ein aufrüttelndes Buch geworden, das hoffentlich noch vielen Diskussionen als Grundlage dienen wird. Aus den genannten Gründen vergebe ich vier von fünf Sternen.

Falls du neugierig darauf geworden bist, findest du es in jedem Buchladen deiner Wahl oder auch online: