Für ein positives Leben ohne Alkohol.

Nüchternheit, Sensibilität

Warum sind (hoch)sensible Menschen häufig anfällig für Sucht?

Gemälde von nackter Frau vor Spiegel von hinten

Bild: Aleksandr Kadykov // unsplash

Vor einiger Zeit ist mir aufgefallen, dass es bei mir zu einer Art Suchtverlagerung kam, und zwar von Alkohol in Richtung Zucker. Wenn ich ehrlich bin, ist mir diese Verlagerung schon vor fünf Jahren aufgefallen, ich habe aber bis zum 22. Februar dieses Jahres gewartet bis ich daran etwas verändert habe. Wie so oft im Leben, hat es dazu einen besonderen Klick-Moment gebraucht. Ich vermute, dass der Hang zu Süßem aber bereits vor dem Alkohol da war. Ich bin schon immer eine kleine Naschkatze gewesen.

Im Jahr 2016 ging es mir sehr schlecht. Ich hatte eine Fehlgeburt von Zwillingen zu verkraften bzw. zu verarbeiten. Ich habe damals richtig starke Cravings bekommen, also das Verlangen zu trinken, weil emotionaler Stress u. a. der Haupttreiber für mein Trinken war. Da es zu der Zeit noch keine #nüchtern-Bewegung in Deutschland gab, bin ich zu AA gegangen, zu denen man ja immer gehen kann, was ich als sehr großen Vorteil empfinde. Da wurde mir zugehört und geholfen. Unter anderem hat mir einer der Meeting-Teilnehmer eine Broschüre der AAs in die Hand gedrückt, die hieß „Trocken bleiben – nüchtern leben“ mit 31 Kapiteln über Tipps für ein nüchternes Leben. Da gibt es ein Kapitel, das besagt, dass du was Süßes essen sollst, wenn du Cravings hast. Dieses Kapitel hat mir quasi meine Legitimation zum Süßigkeiten essen gegeben. Ich habe mich also dann hemmungslos dem Naschen hingegeben, wenn ich Stress hatte.

Ich bin dann im Jahr 2017 erneut mit unserem Sohn schwanger geworden. Da habe ich zum ersten Mal Schwangerschaftsdiabetes bekommen und dachte: Mist! Jetzt geht das mit dem Zucker auch nicht mehr. In meiner Herkunftsfamilie gibt es eine genetische Veranlagung zu Diabetes. Auch bei der darauffolgenden Schwangerschaft mit unserem zweiten Kind hatte ich erneut Diabetes. Dies ging dann immer wieder weg, sobald ich nicht mehr schwanger war. Jedoch muss ich seitdem einmal im Jahr zum großen Blutzuckertest, der mir quasi jährlich bestätigt, dass ich zwar noch keinen Diabetes Mellitus Typ 2 habe, aber dass ich eine sog. Grenzgängerin bin. Meine Blutzuckerwerte sind also nach wie vor zu hoch, aber ich habe noch keine offizielle Diabetes-Diagnose. Ich kann der Diagnose Diabetes entgehen, wenn ich es schaffe langfristig meine Ernährung sinnvoll umzustellen. Insofern befasse ich mich jetzt wieder sehr intensiv mit Cravings, diesmal in Richtung Zucker und emotionalem Essen. Ich analysiere dann immer, wie es zu diesem Verlangen kam und allein diese Vogelperspektive hilft mir schon sehr viel gewisse Zusammenhänge zu erkennen.

Toxische Scham

Das mit der Suchtverlagerung hat mich letztendlich dazu bewogen mich mit dem Thema Sucht auf emotionaler Ebene mal genauer zu befassen. Auch die Tatsache, dass ich bemerke einen erhöhten Smartphone Konsum zu haben, wenn es mir emotional schlecht geht, spielt da mit rein. Flucht und Ablenkung sind wohl meine gängigen Verhaltensweisen, wenn schwierige Gefühle aufkommen und mir alles zu viel wird.

Dazu habe ich auf zartbesaitet.net einen interessanten Blogartikel gefunden, der sehr gut beschreibt, wie Suchttendenzen, Scham und (Hoch)Sensibilität zusammen hängen.[1] Scham spielt bei Sucht eine riesige Rolle. Es gibt drei Arten davon: Scham, Schuldgefühle und toxische Scham.

  • „Scham in ihrer gesunden Form, ist eine wichtige Emotion. Sie verhindert, dass wir Menschen zu nahe treten und bewirkt, dass wir überlegen, was wir sagen. Durch sie bemühen wir uns andere Menschen nicht zu verletzen und ihre Grenzen nicht zu überschreiten. Unser Sozialverhalten wird in hohem Maß von gesunder Scham geregelt. Sie lässt uns spüren, ob unser Verhalten angemessen ist. […]“
  • „Schuldgefühle sind ebenfalls normale und gesunde Gefühle. Sie sagen mir: „Ich habe etwas Schlechtes getan.“ Dies hilft mir es beim nächsten Mal besser zu machen. Hier wird eine konkrete Handlung beurteilt. […]“
  • „Toxische Scham ist ein sehr unangenehmes Gefühl. Es sagt aus: „So wie ich bin, bin ich schlecht.“ Ich als ganze Person werde negativ beurteilt und nicht bloß eine gewisse Handlung oder Eigenschaft. Toxische Scham gibt uns das Gefühl nicht genug, nicht liebenswert und nicht wertvoll zu sein. Sie ist kein Gefühl, das kommt und geht, sondern ein chronischer Zustand. Sie ist so etwas Ähnliches wie ein Minderwertigkeitskomplex. […]“

Toxische Scham entsteht, wenn unsere Bezugspersonen uns dauerhaft oder häufig das Gefühl geben, dass sie uns nicht bedingungslos lieben. Dies ist z.B. der Fall, wenn man nur die Anerkennung der Eltern erfährt, wenn man ihren Vorstellungen entspricht. Andernfalls wird man mit abwertenden Kommentaren konfrontiert. Toxische Scham kann also entstehen, wenn Kinder nur Anerkennung bekommen, wenn sie in der Schule gute Noten schreiben. Bei Mädchen ist es auch häufig so, dass sie sich nur geliebt fühlen, wenn sie eine attraktive Figur haben bzw. über ein „schönes“ Erscheinungsbild verfügen. Floskeln wie beim Wickeln eines Babys auf dem Wickeltisch: „Wenn du jetzt ruhig hältst und brav bist, dann bist du Omas Liebling“ fördern toxische Scham. Oder „Wenn du freundlich bist und lächelst, wenn gleich die Gäste da sind, dann gefällst du mir.“ Sobald also die Zuneigung unserer Bezugspersonen an eine Bedingung geknüpft wird, dann entsteht toxische Scham, weil dem Kind ziemlich offensichtlich mitgeteilt wird, dass es eben nicht bedingungslos geliebt wird.

(Hoch)Sensibilität und Scham

Nun stellt sich zurecht die Frage was das alles mit dem Trinken und der (Hoch)Sensibilität zu tun hat. Die Vermutung ist, dass Hochsensible eher dazu neigen toxische Scham zu entwickeln als Normalsensible. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie von ihrer Umwelt als „nicht in Ordnung“ abgestempelt werden. Denn HSPler brauchen mehr Ruhe und Geborgenheit. Sie trauen sich weniger. Sie können weniger für ihre Interessen kämpfen und sind ggf. lärm- und kälteempfindlicher. Wenn Kinder das Gefühl haben, dass sie sich nicht erfolgreich anpassen können, dann entwickeln sie zunächst Trotz. Wenn sie für ihren Trotz bestraft oder gar bedroht werden, kann sich die Überzeugung festsetzen, ganz grundlegend „nicht in Ordnung“ zu sein. Sie spüren, dass sie nicht um ihrer selbst willen geliebt werden. Da kleine Kinder ihre Eltern in Schutz nehmen, wächst ihre Überzeugung selbst an dem Umstand schuld zu sein. Man schämt sich dafür, dass man nicht geliebt wird. Das ist toxische Scham.

Im Erwachsenenalter haben viele HSPler den Eindruck anders als die Mehrheit zu sein. Sie fühlen sich nur schwer anpassungsfähig und häufig fremd; auch isoliert und vor allem einsam. Das macht es diesen Menschen oft schwer sich zugehörig und verbunden zu fühlen. Genau das wäre aber das beste Heilmittel gegen Scham.

Neigung zu Suchtverhalten

Sucht und Scham haben unheimlich viel miteinander zu tun. Das lernt man schon im Kleinen Prinzen.

Ausschnitt aus dem Buchcover von „Der kleine Prinz“ Foto: Anaconda Verlag

In Kapitel 12 des berühmten Kinderbuches von Antoine de Saint-Exupéry trifft der kleine Prinz einen Säufer. In dem kurzen Wortwechsel, den der kleine Prinz mit dem Säufer hat, findet der kleine Prinz heraus, dass der Säufer trinkt, um zu vergessen. Auf die Frage was er denn vergessen möchte, antwortet der Säufer: „Um zu vergessen, dass ich mich schäme.“[2] Der Säufer beendet das Gespräch mit der Bemerkung, dass er sich schämt, weil er trinkt. Es ist ein Teufelskreis, der beschrieben wird und den die meisten von uns kennen.

Das toxische Schamgefühl ist unangenehm und schwer zu ertragen. Betroffene entwickeln schon früh unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Diese können sein:

  • Du lenkst dich mit ständigen Aktivitäten ab, auch mit Hilfe eines Smartphones
  • Du willst viel leisten und fühlst dich verpflichtet hohe Erwartungen zu erfüllen
  • Du verwendest Essen, Drogen, Zigaretten oder andere Substanzen, um entweder die unangenehmen Gefühle weniger zu spüren oder um mit anderen Empfindungen die toxische Scham zu übertönen.

Sehr „beliebt“ ist die Ablenkung durch Essen, weil dies harmloser als Drogen oder Internetsucht ist. Essen muss jeder ab und an und Menschen haben unterschiedlich viel Appetit. Doch wenn schließlich die Waage in die falsche Richtung auspendelt, dann haben wir einen triftigen Grund für unsere nagenden Schuld- und Schamgefühle. Zudem haben wir noch mehr Druck diese zu übertönen.

Der Weg aus der toxischen Scham ist lang, aber wie so oft gilt: Die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Wenn wir das Problem identifiziert haben, können wir viel für uns tun, und zwar entweder alleine oder mit Hilfe von anderen Menschen. In dieser Erkenntnis steckt sehr viel Potential für die eigene Persönlichkeitsentwicklung drin.

Als ich das mit der Suchtverlagerung endlich verstanden hatte, habe ich auf einmal gemerkt, dass es keinen allzu großen Unterschied mehr gibt zwischen jemanden, der an Esssucht, Magersucht oder Sportsucht leidet und mir. Der einzige Unterschied ist, dass diese Menschen nicht substanzabhängig sind. In meinem Umfeld gibt es wenige Menschen, die in meinen Augen ein Problem mit Alkohol haben, aber durchaus ein Thema mit Essen haben. Diesen Zusammenhang finde ich wirklich spannend.

Welch unfassbar starken Druck unsere eigene Scham auf unser Verhalten ausüben kann, darüber hat die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Brené Brown zwei empfehlenswerte Bücher geschrieben, die bisher zwar nur auf Englisch erschienen sind, die ich aber aufgrund ihrer Relevanz hier unbedingt nennen möchte, falls ihr euch tiefer mit dem Thema Scham auseinander setzen wollt:

I Thought It Was Just Me und Rising Strong.

In den vergangenen Monaten hat sich bei mir bestätigt, dass das beste Mittel gegen Scham Verbundenheit ist. Das heißt aus der Isolation heraus zu kommen, sich zu öffnen, darüber zu sprechen und dabei Verletzlichkeit zu zulassen. Dann nämlich verliert die Scham einiges an Macht über uns. Wir sind dem Ganzen dann nicht mehr so hilflos ausgeliefert.

Kleiner Spoiler: In einem meiner nächsten Beiträge möchte ich noch teilen, wie ich heute mit schwierigen Gefühlen umgehe, wenn sie mal aufkommen.


[1] Ingrid Parlow: Suchttendenzen, Scham und Hochsensibilität. Erschienen am 05.04.2018. Auf: zartbesaitet.net. https://www.zartbesaitet.net/suchttendenzen-und-hochsensibilitaet/, abgerufen am 22.09.2022

[2] Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz, Anaconda Verlag GmbH, Köln, 2015, S. 43