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Rezension: Der Gesang der Berge (Nguyễn Phan Quế Mai)

Buchcover

Manchmal gibt es Bücher, bei denen man das Gefühl hat, dass man geboren wurde, um sie zu lesen. Bei diesem Buch erging es mir so. Meine Mama wurde 1949 im damaligen Saigon geboren, also im heutigen Ho-Chi-Minh City. 1980 kam sie mit meinem Halbbruder nach Deutschland, wo sie meinen Vater kennen lernte. Mein ganzes bisheriges Leben, also seit 38 Jahren, hat mir meine Mutter nie etwas über ihr Heimatland erzählt. Ich wusste also wirklich gar nichts über Vietnam. Im Geschichtsunterricht wurde dieser furchtbare Krieg ebenfalls ausgeblendet. Keiner unserer Verwandten lebt noch dort. Sie sind alle auf der ganzen Welt zerstreut, sodass wir nie einen großen Motivationsgrund hatten, um dort zum Beispiel mal einen Urlaub zu verbringen. Deswegen schenkte ich mir, als ich dann 30 wurde, selbst eine Backpacker Tour in das Land meiner Mutter und meines Halbbruders, welche ich in ihrer Geburtsstadt startete und mich mithilfe eines Open Bus Tickets in den Norden durchschlug. So lernte ich Vietnam zumindest aus der touristischen Perspektive kennen. Was für ein Leben meine Mama dort geführt hat, was sie erlebt hat und wie sie sich dabei gefühlt hat, blieb mir aber nach wie vor verborgen. Nur durch Zufall bin ich auf den „Gesang der Berge“ von Nguyễn Phan Quế Mai gestoßen.

Dieses Buch habe ich verschlungen. Denn es vermittelt mir von der ersten Seite an einen persönlichen Einblick in rund 100 Jahre Vietnam Geschichte. Ich verstehe nun so vieles mehr und vor allem besser in meiner eigenen Herkunftsfamilie. Der Roman wird aus zwei Perspektiven erzählt: Einmal durch die Großmutter Diệu Lan, die 1920 in Nordvietnam geboren wurde, und einmal durch die Enkelin Hương, die 1960 mitten in die Unruhen des Krieges hinein geboren wurde. Damit ist Hương 16 Jahre älter als mein Halbbruder, was mir bei der Einordnung der historischen Familienereignisse ungemein bei der Orientierung hilft. Anfangs habe ich mit dem Perspektivwechsel der Erzählenden ein wenig gehadert, aber man gewöhnt sich schnell daran. Vorne im Buch ist ein Familienstammbaum der Trần Familie abgedruckt, der beim Lesen sehr hilfreich war. Im Verlauf des Buches wachsen beide Geschichten immer mehr zusammen, was den extrem guten Spannungsbogen des Buches aufrechterhält.

Weiterhin habe ich Einblicke in die Geschichte Vietnams erhalten, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, wie zum Beispiel dem großen Hunger nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, bei dem Millionen von Menschen starben oder die Landreform, die in den 50er Jahren auf brutalste Art und Weise durch die Kommunisten durchgeführt wurde. Während ich diese Zeilen schreibe, sind meine Eltern zufällig für ein paar Tage zu Besuch. Und das Beste daran ist: Ich rede mit meiner Mutter über die Dinge, die dort vorgefallen sind. Das heißt, dass alleine durch die Lektüre dieses Buches eine Brücke zwischen ihr, mir und Vietnam geschlagen wird. Sie erläutert mir ihre Perspektive und das, was mein Opa dort erfahren musste. Sie erzählt auch viel von China, da mein Opa und meine Oma eigentlich aus China stammten. Dort sind die Kommunisten auch sehr rabiat vorgegangen. Meine Großeltern sind damals nach Südvietnam geflohen. Wenn man das weiß, tut einem der Vietnamkrieg noch viel mehr weh. Denn der Fluch der Kommunistischen Partei hat meine Familie ja auch in Südvietnam eingeholt. Deswegen hat mich der Roman phasenweise auch richtig mitgenommen, sodass ich gar nicht sagen kann, wie häufig mir beim Lesen die Tränen geflossen sind.

Aber neben der ganzen Grausamkeit, die dieses Volk erleiden musste, ist dieses Buch auch mit zahlreichen Weisheiten bespickt, aus denen ich viel mitnehmen konnte. Generell empfinde ich vieles, das aus der asiatischen Kultur stammt, als sehr weise. Ich denke, dass das mit den vielen Verletzungen, die dieser Kontinent durchlebt hat, zusammenhängt. Hier mal ein Gedanke dazu aus dem japanischen KINTSUGI – die Wertschätzung des Zerbrechens:

Hinter der traditionellen künstlerischen Reparaturtechnik Kintsugi aus Japan verbirgt sich wirklich etwas Schönes:

Zerbrochene Gegenstände werden nicht entsorgt, sondern mit viel Geduld und Fingerspitzengefühl repariert. Dabei entstehen Narben, welche mit goldenen Farbpartikeln bewusst betont werden. Warum? Weil die Unvollkommenheit die Schönheit ausmacht. Weil Narben und Risse demonstrieren, dass Zerstörung nicht immer das Ende, sondern auch der Beginn von etwas Neuem sein kann. Weil gerade gebrochene Dinge Zuwendung und Wertschätzung brauchen.

Die Hervorhebung der goldenen Bruchstellen symbolisiert den Mut zur Unvollkommenheit zu stehen, mit Missgeschicken zu leben und das Scheitern, den Bruch anzunehmen. So kann Neues entstehen, so fangen die Dinge an zu glänzen. (Goldene) Narben als Mosaik der Resilienz!

Beispiel für Kintsugi
Photo credits: Matt Perkins // unsplash

Ist das nicht schön? Selten in meinem Leben habe ich in einer so einprägsamen Sichtweise erfahren, dass die ganzen Verletzungen und die daraus resultierenden Narben innerhalb eines Lebens ja auch was Schönes sind. Ich vermute, dass ich gerade deshalb Menschen, die schon einmal gestärkt aus einer Krise hervorgegangen sind und die wissen, dass das Leben nicht immer nur Zuckerschlecken ist, so spannend finde. Denn diese Menschen haben schon einmal etwas erlebt und sind nicht daran zerbrochen. Denn das Leben besteht nun mal aus Sinuskurven besteht: Es geht mal rauf und mal runter. Ich denke, dass ich deswegen den „Gesang der Berge“ als so weise und Resilienz stärkend empfinde.

Beim Lesen selbst dachte ich häufig an den Kalten Krieg sowie an den Krieg, den Putin gerade gegen die Ukraine führt. Ost gegen West. Ein im kommunistischen Russland sozialisierter Diktator gegen Demokratien. Bruder gegen Bruder. Denn Geschichte wiederholt sich. Was mir deshalb besonders gut gefällt, ist der menschliche, persönliche Blick auf die Lage. Denn an vereinzelten Textstellen wird deutlich, dass uns Menschen, auch im Krieg, mehr eint, als trennt. In meinen Augen sind das wichtige Aspekte für friedenspolitische Maßnahmen. Und genau Letzteres macht dieses Buch aktueller denn je. Ich frage mich, was man aus diesem Roman für den gegenwärtigen Krieg ziehen kann. Welche Interessen stecken hinter gewissen Positionen? Wo und wie lässt sich ein Mehrwert für heute generieren? Welche Bedeutung hat der Krieg von damals für die Gegenwart? Eine ganze Menge würde ich sagen. Daher bekommt dieses Buch fünf von fünf Sterne von mir. Es ist absolut lesenswert.

Falls du neugierig darauf geworden bist, findest du es in jedem Buchladen deiner Wahl oder auch online: